Wenn der Verstand schweigt, dann beginnt die Ekstase

Von Aida Calin

Du kennst die Kunst der Verführung. Du hast keine Hemmungen. Du möchtest das heiße Universum der Leidenschaften erkundschaften. Und dennoch wird Dir das große Geheimnis des mystischen Orgasmus erst durch Tantra offenbart: vollkommene Hingabe. Mystische Sexualität wird zu einer Form des Yoga oder Meditation, wenn man als solche an sie herangeht. Dies bedeutet, dass das Wesen während der erotischen Verschmelzung durch tiefe und wahre Liebe in erster Linie durch das Erscheinen einer vollständigen Absorbierung des Verstandes durch die direkte Erfahrung des amourösen Erlebnisses und, in zweiter Linie, durch die aktive und kreative Integration auf vielen Ebenen (der physischen, mentalen und spirituellen) erfüllt wird. In der gewöhnlichen Sicht gibt es ein breites Spektrum an weitschweifigen Meinungen, die fälschlicherweise als „normal“ angesehen werden können. In der tantrischen Erotik müssen diese zumindest bis zu dem Level reduziert werden, wo sie nicht im Übermaß und entartet sind oder wo sie nicht die emotionale Intimität und das Erreichen einer mystischen Erfahrung unterbinden.

Das Jnana Yoga System, das auch die kognitive Meditation beinhaltet (aus der sogar das Zen- System entstanden ist), ist eine Art und Weise, die Sprache spontan und natürlich zu verwenden. Wenn wir beispielsweise jemandem zuhören, der zu uns spricht, dann wird unser Verstand die Nachricht, die uns übermittelt wird, verstehen, wenn wir nichts anderes machen als auf die Wahrnehmung des unangenehmen Geräusches oder dem Gegenteil eines harmonischen Klanges zu hören, den die betreffende Stimme erzeugt. Tatsächlich verstehen wir klar und deutlich was uns gesagt wird, wenn wir nicht nach jeder Aussage verbale Phrasen oder innere Spekulationen formulieren. Sogar die unbedeutenden Dinge können durch eine solche stille Haltung des Verstandes, die „reservatus mentis“ genannt wird, wahrgenommen werden. Jede Handlung, die in Harmonie ausgeführt wird, kann zu einer mystischen Erfahrung führen. Gleichzeitig kann eine meditative Haltung noch viel mehr tiefgründige Resultate und Bewusstwerdungen anziehen. Wenn wir den diskursiven Denkprozess einschränken, dann geben wir tatsächlich unserem latenten Unterbewusstsein die Möglichkeit, sich voll und ganz zu entfalten und auf diese Weise können wir die Tiefen unseres Wesens durchdringen und von dort eine außergewöhnliche Lebensenergie beziehen. Dies bietet uns eine sehr große Energie für all unsere Erfahrungen: die Fähigkeit, diese Energien zu kontrollieren – nicht durch den rationalen Verstand sondern durch das Überbewusstsein, Äußerungen des göttlichen Willens und der Harmonie werden im reinen Spiegel unseres eigenen Bewusstseins reflektiert, das nicht verdunkelt oder umgeben ist von den limitierenden Gedanken, der Persönlichkeit, dem Ego.

Entdecke Gott in Deinem/r Geliebten

Um die Liebeserfahrung in eine wahre spirituelle Erfahrung umzuwandeln, ist es notwendig, das rationale, begrenzende Denken zu beenden. Dies ist eine notwendige Voraussetzung, aber dennoch kann die einfache Befreiung der unbewussten Kräfte, Wahrnehmungen und Erfahrungen noch nicht wirklich einen mystischen Zustand ausmachen, da die Energie erst sublimiert werden muss, damit sie verfeinert wird, und dies ist die essentielle Aufgabe des Überbewusstseins, weil es dasjenige ist, das wirklich unsere Erfahrungen erleuchtet und veredelt. Daher erscheint die Notwendigkeit eines sehr wichtigen Elementes – Transfiguration – eine Handlung des Überbewusstseins, das Überstülpen eines Musters oder eines göttlichen Archetypen über den dunklen Hintergrund der unbewussten Welt. Durch die Verbindung zwischen der Kraft der Erfahrung von unten und der Göttlichen Inspiration, die wir von oben erhalten, können wir wahrhaft erhabene, ja sogar mystische Erfahrungen der erotischen Fusion erleben. Transfiguration bedeutet, über das normale Bild des/der Geliebten hinaus zu sehen – den Gott oder die Göttin – und mit ihren sublimen, erhabenen Aspekten zu verschmelzen. Solch eine Referenz zu einem Ideal, das in unserem/r Geliebten existiert, versetzt uns in eine erhabene Welt und hilft uns, den Liebesakt als eine Meditation zu erfahren. Wenn wir die Mythen analysieren, auf die sich viele Psychoanalysten, vor allem Jung, immer wieder beziehen, dann verstehen wir, wie wundervoll integriert diese beiden Tendenzen sind – das Unterbewusstsein, das verschiedene, tiefgründige Bedürfnisse ausdrückt, die mit einer außergewöhnlich großen Energie aufgeladen sind, und das Überbewusstsein, das sich selbst durch die Transfiguration der Menschen ausdrückt, die alle Göttliche Tugenden besitzen und somit zu Königen, Prinzessinnen, Göttern und Göttinnen werden. Daher sind die Erfahrungen solcher Helden nichtsdestotrotz zutiefst menschlich, und repräsentieren eine versteckte Form von tiefgründigen, initiierenden Schlüsseln, so wie das Wunder des Erwachens der fundamentalen Energien und ihrem Aufsteigen bis in die erhabenen Ebenen des eigenen Wesens.

Jetzt trinkst du aus der Quelle des Lebens

Um die spirituelle Ekstase zu leben während wir Liebe mit sexueller Kontinenz ausführen, empfiehlt die traditionelle orientalische Literatur das Anhalten und das Aufheben der Gedanken. Tantra besagt, dass wir uns gegenüber der Sexualität öffnen müssen, indem wir den Verstand von allen Gedanken leeren und einen Zustand einnehmen, den manche Menschen auch „Die Abwesenheit des Verstandes“ oder „Reinen Verstand“ nennen. Diese Empfehlung wurde oftmals fehl interpretiert und buchstäblich verstanden, was uns zu dem Glauben verleiten könnte, dass die Mystiker alle mentalen Aktivitäten unterbrochen haben, um in einem Zustand zu verbleiben, in dem sie sich selbst gegenüber der Welt verschlossen haben und sich selbst aus dem Leben zurückgezogen haben. In Wirklichkeit wird tatsächlich nur empfohlen, eine bestimmte Art des Denkens, Sprechens zu beenden, eine Art, die alles benennt – geradlinig, nur auf diskursiven Darstellungen basierend. Auf diese Art denkend wird jede unserer Erfahrungen, Wahrnehmungen und Empfindungen sofort durch Worte ausgedrückt, was ihnen einen moralischen Wert verleiht – positiv oder negativ. Diese Art des Denkens ist assoziiert mit der linken Gehirn-Hemisphäre und nimmt in einer ersten Phase die Form eines inneren Dialoges oder Monologes an. Zu dieser Art des Denkens, die so spezifisch ist für unsere Zeit, ermutigten die alten mystischen Schriften nicht, sondern sie empfahlen, sie zu minimieren, um ein Gleichgewicht zu erlauben. Eine Harmonie zwischen den spezifischen Manifestationen beider Gehirnhälften – der linken, die mit dem logischen, rationalen und diskursiven Manifestationen in Verbindung steht und der rechten, die mit den Zuständen der Intuition, Kreativität und dem ästhetischen Sinn korrespondiert. Wenn wir beim Liebesspiel mit sexueller Kontinenz das diskursive Denken blockieren, werden wir viel bewusster, was in Wirklichkeit passiert. Wir beginnen zu fühlen, dass wir „aus dem Brunnen des Lebens trinken“, und daher regt uns die tantrische Tradition dazu an, jede Erfahrung voll, total und direkt zu leben und auf diese Art aktiv und kreativ an einem Liebesspiel teilzunehmen. Somit werden wir viel bewusster, absorbiert und entsagend in der Erfahrung, ohne zu versuchen, irgendetwas dieser Erfahrung in Worten oder Gedanken zu beschreiben. In dieser Art der tantrischen amourösen Fusion werden sich die Geliebten ihrer selbst viel stärker bewusst und sind fähig, sich besser zu konzentrieren und den Zustand des Orgasmus vollständig zu leben, da sie nicht denken; sie geben sich selbst der direkten Wahrnehmung dessen, was gerade mit ihnen passiert vollständig hin, ohne dass diese Erfahrung durch den begrenzten Bildschirm des inneren Monologs gefiltert wird.

Glück, dein Name ist Spontaneität

Jede höhere Integration (das kreative Genie, sei es im wissenschaftlichen oder im künstlerischen Bereich) setzt die Eigenschaft voraus, die vielschichtigen Aspekte eines Problems zu kondensieren und im Kopf zu behalten, und dies hat einen viel höheren Wert als die Fähigkeit, sie linear, Stück für Stück, zeitlich fragmentiert zu analysieren. Die Möglichkeit, die Realität auf verschiedenen Ebenen wahrzunehmen, in einer kosmischen Perspektive, ist offensichtlich das Kennzeichen eines Wesens mit einer höheren Bewusstseinsebene, das fähig ist, die Realität aus unterschiedlichen Winkeln zu integrieren. Demzufolge kann eine Sache oder ein Phänomen vom vitalen, kreativen, amourösen, willentlichen, affektiven, intuitiven, mentalen oder spirituellen Standpunkt aus analysiert werden. Wie jede andere Meditation begünstigt die amouröse Erfahrung einen kreativen, intuitiven Weg der Wahrnehmung, der als eine direkte Auswirkung das unmittelbare Erleben der Erfahrung hat. Ohne jede Empfindung zu beschreiben und sogar ohne zu denken „Oh, wie gut sich das jetzt anfühlt“, oder „Ich habe gerade einen sehr erhabenen Zustand“, können wir die Erfahrung selbst ganz frei erleben. In einem tantrischen Liebesspiel sind Mann und Frau offen gegenüber den Empfindungen, in sie versunken und ohne sie zu bewerten, sie erleben sie uneingeschränkt und formulieren nicht, was sie erleben. Offensichtlich bleibt das rationale Denken im komplexen Ensembles eines Zustandes wie diesem integriert, aber der Verstand ist nun fähig, ohne Aufwand und auf einmal, all die auftauchenden Wahrnehmungen zu berücksichtigen.

Zwei Tautropfen in der gleichen Transparenz

Die mystische Erfahrung findet durch eine spontane und vollkommen bewusste Absorption und Konzentration auf jeden einzelnen Moment der erotischen Fusion statt, alle Gedanken über zukünftige Aufgaben oder Ziele beseitigend, und dies beinhaltet auch die Ideen bezüglich der sexuellen Kompatibilität und sogar des Erlebens von Zuständen des transzendenten Bewusstseins. Die bewusste Hingabe an die amouröse Erfahrung führt zum Anhalten des Verstandes und erlaubt so das Erscheinen des glückseligen Zustandes, dass die beiden Liebenden sich auf die Energie der reinen Liebe einstimmen, und es führt uns implizit zu der vollständigen Erfahrung des Zustandes von Yoga (der Verschmelzung mit unserer eigenen Göttlichen Essenz). Die orientalischen Traditionen erwähnen die Tatsache, dass die vollkommene und gleichzeitige Erfahrung von einem oder mehreren Empfindungen, in diesem Fall der erotischen Empfindungen, das Ruhen des Denkprozesses induziert.
Oft wird diese Wahrheit auf unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt. Wie Henry Masepro zu sagen pflegte, ist für die Taoisten das Herz das Zentrum der Weisheit und des Geistes, und nicht das Gehirn. Symbolisch betrachtet ist das Gehirn das Organ der Sprache und der Theorien, während das Herz – auch wieder symbolisch gesprochen – das Organ des Lebens und der indirekten Wahrnehmung ist. Das ursprüngliche Charakteristikum des Tantra ist gemäß des großen orientalischen Liebenden Mircea Eliade, die anti-asketische und anti-spekulative Einstellung, das totale Einbinden der Sinne und die Verminderung der diskursiven Analyse. Tantra wurde bezeichnet als „das, was uns die Befreiung von den Ketten von Maya bringt“. Maya ist daher auch die Magie oder die Illusion der Worte, der Sprache, der Konzepte und der spekulativen Theorien. Generell gibt es eine Verwechslung zwischen der Realität und der Beschreibung von ihr, zwischen der Landschaft und der Landkarte von dieser Landschaft, zwischen dem Essen und der Speisekarte. Die Speisekarte hat ihren Wert und Sinn, aber sie ist nicht sehr nahrhaft. Die Illusion von Maya, die Überzeugung, dass unsere abstrakten Gedanken immer ihre eigene greifbare Realität besitzen, ist der Grund dafür, dass Religionen und beliebte Ideologien solch einen großen Einfluss über die Massen haben. Wenn wir daher Liebe machen und wenn wir unsere Gedanken anhalten, dann passiert etwas sehr interessantes. Wir sind fähig, uns perfekt auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren und auf alles, das sich entfaltet, während die Erinnerungen an die Vergangenheit und die Ziele, die wir für die Zukunft erstreben, uns nicht länger behindern, und nichtsdestotrotz sind wir integriert und vereinigt auf eine erhabenere Art. Ineinander und gegenseitig verschmolzen, wie zwei Tautropfen, die sich vereinen, eine einzigartige Durchsichtigkeit und einen Glanz erlangend, spüren die Liebenden die Ekstase, die in diesem Moment auftritt. Es ist eine Vereinigung, eine wahre Kommunikation, nicht nur ein Symbol oder etwas unvollständig, nur auf ein paar Ebenen des Wesens Realisiertes, und so erreichen wir einen hohen Zustand der Verschmelzung und der Kommunion mit der Realität, den Zustand des Yoga.

Yoga, die ideale Sexualtherapie

Wenn es verstanden und angewendet wird, dann ist ein bestimmter Teil des Yoga gleichwertig zu der Praxis der westlichen Psychotherapie. Wir werden kurz betrachten, wie viele mentale Techniken der Sexualtherapie tatsächlich Yoga Prinzipien sind, angewendet im Feld der Sexualität (Coitus Reservatus, Beruhigung der Gedanken, bewusste Induktion eines erhabenen Zustandes, der Gebrauch von positiven Suggestionen etc.). Moderne Techniken der Sexualtherapie verwenden die tiefgründige Introspektion, um die ursprünglichen Ursachen einer psychologischen Ordnung zu etablieren, die auf verschiedenen sexuellen Störungen basieren. Dieser Schritt ist ähnlich zu demjenigen, den Yoga-Praktizierende ausführen, die durch Methoden der Selbsterkenntnis zu der Kenntnis der ultimativen Wahrheit, zu Gott, zu gelangen. Der sexuelle amouröse Akt kann, wenn man sich ihm in einer bewussten Art und Weise nähert, dem menschlichen Wesen – egal ob Mann oder Frau – helfen, um Hemmungen, Vorurteile, psychische Komplexe, etc. zu entdecken und aufzulösen, und ermöglicht ihm den Zugang zu innerer Freiheit und wahrem Glück.

Die Mehrheit aller Männer und Frauen, die Liebe machen, ist während des Liebesspieles mit der Schwierigkeit konfrontiert, die Gedanken und Ideen, die sie betreffen und sie „nicht in Ruhe lassen“, abzuschalten. Dies ist eines der Elemente, das zu großen sexuellen Problemen führt (Impotenz, Frigidität, die Abwesenheit oder die Abnahme von sexuellem Verlangen) und welches sie dazu führt, einen Spezialisten zu kontaktieren. Männer und Frauen, die eine mystische amouröse Fusion erleben, geben das direkte, diskursive und rationelle Denken auf, und erlauben sich selbst, überwältigt zu werden durch die unaussprechlichen Erfahrungen und Empfindungen der Expansion und des Glücks. Diejenigen Menschen andererseits, die nie einen Zustand des amourösen spirituellen Aufblühens erlebt haben, sind sich oft nicht darüber bewusst oder weniger bewusst, was sie denken. Es gibt viele Arten des Denkens, welche die spirituelle amouröse Fusion stören, blockieren oder begünstigen können. Offensichtlich kann die mentale Aktivität während des Liebesspieles einer einzigen Richtung folgen oder sie kann sich verändern, abhängig von dem Geliebten oder unserer eigenen Stimmung. Um fähig zu werden, den Fluss des diskursiven Denkens zu stoppen, wäre ein erster Schritt, sich der aktuellen Modelle der mentalen Einstellung bewusst zu werden, die man während dem Liebesspiel einnimmt.