In der Auffassung des Yoga bedeutet ‚Brahmacharya‘ Kontinenz, Kontrolle, Zurückhaltung (sogar im Sinne der Enthaltsamkeit, Abstinenz), spirituelle Orientierung, die Transmutation und Sublimierung der sexuellen Energie (sowohl beim Mann als auch bei der Frau) in höhere, subtilere, spirituelle Bereiche. Kurz gefasst, bezweckt man durch Brahmacharya eine perfekte Kontrolle der sexuellen Energie zu erreichen, ohne aber die Möglichkeit der Ausübung der sexuellen Tätigkeit auszuschließen. Dem Yogi stehen somit zwei Möglichkeiten zur Verfügung:

  • auf die sexuelle Tätigkeit gänzlich zu verzichten, jedoch darauf zu achten, dass durch bestimmte Yoga-Techniken das sexuelle Potential in höhere Energieformen (wie z.B. Vitalität, innere Kraft, reine Liebe, mentale Kraft, Spiritualität) umgewandelt wird. Diese Techniken schließen folglich alle erotischen oder sexuellen Erlebnisse aus.
  • die sexuelle und erotische Tätigkeit von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten und durchzuführen, indem man die vollkommene Kontrolle oder Kontinenz der sexuellen Funktion durch intelligente Ausübung dieser anstrebt.

Grundsätzlich verfolgt man den Orgasmus von der Ejakulation zu trennen, wobei die Ejakulation beliebig lange hinausgezögert wird, unabhängig von der Dauer, Intensität und Anzahl der sexuellen Kontakte. Die Ejakulation ist nur dann erwünscht wenn das Paar ein Kind bekommen möchte.

Im Falle der Frau ist die Kontrolle der sexuellen Energie während des Liebesaktes, also die sexuelle Kontinenz, sehr leicht durchführbar und bedarf nur in äußerst seltenen Fällen einer vorausgehenden Vorbereitung.

Bei Männern setzt jedoch die Kontrolle der Ejakulation und das Aussetzen dieser über eine möglichst lange Zeit hinweg (von Wochen, Monaten und sogar Jahren) ein allmähliches und beharrliches Training voraus und wird als eine wahre Höchstleistung betrachtet, die den spirituellen Fortschritt beschleunigt und das Liebespaar in einen Zustand der höchsten Seligkeit versetzen kann.

Die sexuelle Kontinenz verleiht eine neue Sichtweise des Lebens und der Sexualität und ist im Grunde genommen eine Einladung, die geheimnisvollen, spirituellen Dimensionen des verklärenden Eros zu entdecken.

Der Yoga-Lehre zufolge entsteht das gesamte Universum aus der kosmischen Vereinigung des männlichen (+, Yang) Prinzips mit dem weiblichen (-, Yin) Prinzip, und der Ausdruck dessen auf physischer Ebene ist die Vereinigung zwischen Mann und Frau. Beherrscht das Liebespaar die sexuelle Kontinenz perfekt, so ist die körperliche Liebe eine fortwährende, Glückseligkeit erzeugende Bewusstseinserweiterung, BEI DER MAN VOM ENDLICHEN AUSGEHT UND DAS UNENDLICHE ERREICHT. Ein orientalischer Spruch drückt diese Wahrheit folgendermaßen aus: „Wenn die Liebe, dank der vollkommenen sexuellen Kontinenz, unendlich groß wird, kann das Unmögliche mit Leichtigkeit möglich werden.“

Nach der orientalischen Auffassung führt der Spermaverlust zu Erschöpfung, Vitalitätsrückgang und zum Sinken des affektiven, mentalen und spirituellen Potentials, und sollte daher nur bei einem Fortpflanzungswunsch zugelassen werden. Das Behalten des Spermas während der sexuellen Vereinigung führt dagegen zu Vergrößerung der Vitalität, zu ungeahnter Verstärkung der Wonne beider Liebhaber, zu Energieauftankung, Verjüngung, spontanem Erwecken der telepathischen Fähigkeiten und zum Erleben von unzähligen Orgasmen ohne danach Müdigkeit, Schläfrigkeit oder Abneigung gegen den Sex zu empfinden.

Kontinente Frauen beobachten eine gleichmäßige Verminderung des Menstruationsblutes und der Menstruationsschmerzen, das Verschwinden der mit der Menstruation verbundenen, schambehafteten Nebenwirkungen sowie eine körperliche Auffrischung, die Vergrößerung der Vitalität, der schöpferischen Kraft und Intelligenz, psychisches Gleichgewicht und das Entfernen von Minderwertigkeitskomplexen. Liebespaare, welche die sexuelle Kontinenz praktizieren, werden von viel weniger inneren Problemen und Spannungen heimgesucht. Die Liebesbeziehung ist weitaus inniger, dauerhafter und harmonischer als bei gewöhnlichen Liebespaaren.

Solange man die sexuelle Kontinenz einhält, braucht man der Yoga-Lehre zufolge, frühzeitiges Altern, Krankheiten, den Tod oder den Verfall nicht mehr zu befürchten. Was die Sexualität angeht, sollte hervorgehoben werden, dass Yoga nicht um jeden Preis die Nicht-Aktivität, die Enthaltsamkeit voraussetzt, da in den meisten Fällen der Verzicht auf die sexuelle Tätigkeit fast unmöglich ist und oft der betreffenden Person sogar schadet. Es wäre also völlig sinnlos, die totale Abstinenz als allgemeines Ziel im Yoga anzusetzen. In dieser Hinsicht ist es angebracht einige Zitate aus dem berühmten Werk der orientalischen Weisheit BHAGAVAD GITA zu erwähnen:

„Löse dich innerlich von jeder Bindung an die Nicht-Aktivität.“ (47. Spruch, 2. Kapitel)

„Nicht träge auf die Tätigkeiten verzichtend, genießt der Mensch die Ruhe, nicht durch den Verzicht auf Aktivität gelangt der Mensch zur Vollkommenheit.“ (4. Spruch, 3. Kapitel)

Des weiteren besteht Krishna darauf, dass „die Aktivität der Nicht-Aktivität weit überlegen ist.“ (8. Spruch, 4. Kapitel)

Beherrscht das menschliche Wesen Brahmacharya perfekt, so entwickelt sich in ihm ein riesiger Vorrat an Vitalität und Energie, ein scharfer und mutiger Verstand und ein starker Intellekt, der sich jeder Schwierigkeit oder Ungerechtigkeit widersetzen kann. Wer die sexuelle Kontinenz entschlossen ausübt, wird in seinem Inneren einen Überschuss an physischer Kraft entdecken, die er in seinen alltäglichen Tätigkeiten erfolgreich einsetzen kann. Außerdem kann er feststellen, dass auch seine mentale Kraft viel größer, sein Verstand klarer und sein Gedächtnis besser wird. Durch die Verbesserung der intellektuellen Fähigkeiten wird auch eine Beschleunigung des spirituellen Fortschritts ermöglicht.

Weitere Wirkungen

Derjenige, der die sexuelle Kontinenz (Brahmacharya) beharrlich ausübt, stärkt all seine inneren Fähigkeiten. Die sexuelle Kontinenz ermöglicht sogar die Offenbarung des Höchsten Selbst (Atman). Der Körper, die Psyche und alle Sinne des Ausübenden werden zu außergewöhnlichen Verwirklichungen fähig.