von Uriel Yariv

Stelle dir vor, du erhältst vollständige Freiheit vom Spiel, stelle dir vor, du musst nicht länger irgendjemanden beeindrucken, nicht einmal dich selbst. Du brauchst nicht mehr zu zeigen dass du größer oder erfolgreicher bist oder mehr respektiert wirst. Stelle dir vor, du wärst dir so sicher, dass du bereits alles hast, was du brauchst; und dass nichts etwas von dem tiefgründigen Gefühl der Ganzheit, das in dir existiert, hinzufügen oder wegnehmen kann. Stelle dir vor, du bist nicht länger angezogen vom hypnotisierenden Ego; dass du aus dem Bann erwacht und frei bist. Eine solche Freiheit ist nicht das Ergebnis irgendeines übertriebenen Psycho-Trips, sondern vielmehr ist sie das Ergebnis einfacher Demut. Eine solche Demut versteckt sich in einem immensen und gewaltigen spirituellen Geheimnis. Derjenige, der es entdeckt, wird niemals wieder an sein niedrigeres Selbst gebunden sein. Diese Demut neutralisiert die Auswirkungen des Egos und ist die wesentliche Zutat, die der Meditation ihre Tiefe und Stille und Gebeten ihre aufsteigende, Himmel öffnende Liebe verleiht.

Das Geheimnis von Demut ist nicht, sich vorzustellen wie groß man ist, sondern sich eher daran zu erinnern wie klein, nicht aufgewühlt zu sein hinsichtlich der Dinge, die du verdienst oder haben solltest, sondern eher dankbar für das zu sein, was du tatsächlich hast. Eine solche Demut war lebendig in Mahatma Gandhi, der selbst als er bereits ein erfolgreicher Anwalt und der Anführer der Indischen Gemeinde in Südafrika war, noch immer die Toiletten seiner vielen Gäste selbst geputzt hat, und der mit dem Zug nur in der überfüllten dritten Klasse gereist ist, um seinen Geist bescheiden zu halten.

Aber es ist nicht notwendig den weiten Weg nach Indien zu gehen, um Demut zu finden. Nicht nur der Hinduismus schätzt dieses spirituelle Juwel. Im Judentum zum Beispiel heißt es, dass Stolz und Gier überwunden werden müssen und dann wird man Demut finden, und in ihr wird man den inneren Frieden finden. Ein Bettler, der auf der Strasse lebt, mag nicht viel Stolz in sich tragen, aber dennoch hat er Begierden und daher hat er keine Demut oder Frieden. Ein Mönch, der fern der Welt lebt, mag seine Begierden verringert haben, aber dennoch, wenn er stolz auf seine spirituelle Identität ist, existiert weder Demut noch innerer Frieden in ihm. Dies ist der Grund warum Ramakrishna sagte: „Der Stolz gewöhnlicher Menschen wird irgendwann verschwinden, aber der Stolz einer spirituellen Person hinsichtlich seiner Heiligkeit, dieser ist wirklich schwer abzulegen.“

Wahre Demut erfordert keine Entbehrung oder Zaubersprüche oder Mantren; sie kommt von einem luziden Verlust des Interesses an all den Versuchungen, die das Ego anbietet. Sie ist eine einfache, erdige Art des gesunden Menschenverstandes, der unschuldig ohne irgendeine Komplexheit ist. Durch sie versteht man tiefgründig, dass das Ego überhaupt nichts Wesentliches anzubieten hat.

Solche Demut ist begründet in dem Glauben, dass Glück nicht von Geld, von Komfort, von befriedigter Begierde oder von Ruhm kommt. Wenn dieses Verständnis den Kern des Wesens erreicht, wenn es wirklich die Knochen durchdringt, hat das Ego nichts mehr anzubieten und es schwindet dahin wie eine vertrocknete Hülle. Dann ist der Geist im Menschen in der Tat nicht länger seinen belanglosen Spielen unterjocht.

Solche Demut führt wahrhaftig zu innerem Frieden. Die Vergangenheit und die Zukunft verlieren ihre magnetische Anziehung und die Aufmerksamkeit ist ganz natürlich und mühelos auf den gegenwärtigen Moment, hier und jetzt, gerichtet. Solche Demut schneidet alles ab, was Schwindel ist, und offenbart und erweckt somit die wahre Kraft, die im Menschen existiert, zum Leben.

Demütige Menschen sehen völlig einfach aus, ihr Gesicht ist ruhig, ihre Augen spielen keine Show, sie sind direkt und sie sprechen aus einer einfachen und schlichten Weisheit heraus. Sie spielen nicht das Spiel, das für die meisten von uns das Zentrum unseres Lebens ist. Aber dennoch sind sie nahezu unbewusst darüber, das etwas besonders an ihnen ist.

Ein leerer Kanal zu sein

Moses war auserwählt, das jüdische Volk zu führen, große Wunder zu vollbringen und eine Religion zu begründen, die im Begriff war, das Schicksal der Menschheit für Tausende von Jahren zu beeinflussen. Aber warum war er und nicht jemand anderes auserwählt? Er war nicht der beste Redner oder der beste Politiker, er hatte sogar einen Defekt in seinem Mund und in seiner Sprache. Der große Moses war für diese gewaltige Mission auserwählt worden, ganz einfach weil er der demütigste war. Er spielte nicht das Spiel des Egos und daher hatte er einen inneren ruhigen Raum, durch den er die göttliche Sprache GOTTES hören konnte, Der ihn auserwählt und mit ihm und durch ihn gesprochen hat. Dieser leere innere Raum machte Moses zu einem leeren Kanal des Göttlichen und ließ ihn GOTTES Wille verrichten, ohne die Botschaft zu beeinträchtigen oder zu verzerren.

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als würde Demut einen passiven Zustand erzeugen, dem es an Motivation fehlt, aber in Wirklichkeit ist Demut weder passiv noch aktiv, und dennoch macht es Handlungen viel leichter, denn es gibt keinen mehr, der sich der rechten Handlung widersetzt. Eine demütige Person begegnet den Herausforderungen des Lebens, ohne sich gegen sie zu sträuben oder sie zu vermeiden. Sie nutzt ihre Kräfte, um Erfolg zu haben in dem, was sie tut, nicht um durch das, was sie tut, für sich selbst eine Identität zu erschaffen, sondern einfach nur weil dies die Herausforderung ist, mit der sie jetzt konfrontiert ist. Auf diese Weise wird eine demütige Person, die einen Film produzieren muss, für diese Mission alle ihre Kräfte ansammeln, um einen guten Film zu machen, der zum Ausdruck bringt, was ausgedrückt werden möchte. Jedoch nicht um Ruhm zu erlangen oder für sich selbst eine Identität als Filmemacher zu erschaffen. Sie hat bereits eine tiefe und geheimnisvolle Wahrnehmung einer inneren Identität, die weder eine Bestätigung aus dem Umfeld noch von ihren eigenen Gedanken benötigt. Wenn die Frage „Wer bin ich?“ in ihr aufsteigt, braucht sie darauf nicht mit Argumenten aus dieser Welt zu antworten. Sie hat kein Objekt, an dem sie sich festhält und sagt: Ich bin ein Filmregisseur, ich bin ein Hochschulabsolvent, ich bin eine kultivierte Person oder ich bin dies oder das. Und trotzdem hat sie eine klare Wahrnehmung von Existenz, die keine Bestätigung braucht. Eine demütige Person wird ihre „diamantgleiche Stille“ nicht gegen einige nutzlose Krümel der Ehre oder des Ruhmes eintauschen.

Ablegen des Selbstbildes

In einem Treffen mit engen Freunden machten wir zusammen eine Übung, in der wir alle prüften und niederschrieben, welche Art von Selbstbild wir uns wünschen für uns selbst zu erschaffen, vor den anderen und vor uns selbst. Wir lasen uns als eine Art Geständnis gegenseitig vor, was die Erscheinungsbilder waren, die wir wünschten der Welt zu „verkaufen“. Während des Lesens fühlten wir alle, durch das Teilen dieser Seite unseres Egos, eine solche Erleichterung und eine solche Freiheit.

Sich unseres Stolzes bewusst zu machen ist in der Tat ein königlicher Pfad zu Demut. Der nächste Schritt, den wir machten, war, den Preis des Aufrechterhaltens solcher Selbstbilder zu erkennen. Wir alle mussten gestehen, dass es unsere Spontaneität, unsere innere Freiheit, unseren Sinn für Humor kostet und das der größte Preis von allen ist, dass das Bild, das wir von uns erschaffen, uns weit entfernt hält von dem, was wir wirklich sind, von unserer wahren Natur.

Ein Selbstbild aufrecht zu erhalten ist eine ununterbrochene Show, die keine Wirklichkeit hinter sich hat und somit konstant Energie verbraucht. Auf der anderen Seite ist Demut wie freie Energie, sie fließt von selbst, denn sie erlaubt dem, was wahr ist, sichtbar zu werden, sie basiert auf der Realität und ist daher fest und stark; sie ist eine Quelle großer Kraft.

Demut wie die von Gandhi oder Moses, wenn sie einhergeht mit Selbstvertrauen und mit einer authentischen spirituellen Erfahrung, erzeugen zusammen den dreifachen Schlüssel zu spirituellem Charisma. Die Kraft von Mahatma Gandhi lag nicht in seinen Muskeln, sondern in seiner Bereitschaft zu akzeptieren, was immer notwendig war, große Schwierigkeiten zu erdulden und seine Fehler öffentlich zu bekennen. Sein Wunsch nach Demut entblößte ihn von Falschheit und erlaubte den wahren Qualitäten seiner Seele aufzuleuchten. Seine Kraft lag darin, dass er sich selbst als letztes menschliches Wesen sah, und daher machte ihn sein Volk zu ihrem ersten, ihrem Anführer und Quelle der Inspiration. Sein Charisma war nicht das Ergebnis seiner Fähigkeiten, den Eindruck zu vermitteln, dass die Interessen seines Volkes ihm wichtiger waren als seine eigenen. Er glaubte wahrhaftig und demütig daran, dass die Interessen seines Volkes tatsächlich wichtiger für ihn waren als seine eigenen. Die Inder erkannten seine Aufrichtigkeit und machten ihn zu ihrem spirituellen Anführer und dem Vater der Nation.

Es gibt eine wunderschöne Sufi Geschichte, die die Demut eines Anführers demonstriert:

„Im Palast eines Königs gab es einen einfachen Sklaven, den der König liebte und den er in immer höhere Positionen brachte, bis der Sklave der Minister der Schätze des Königs wurde. Jedoch ermahnte der König ihn immer, niemals zu vergessen, woher er kam. Seit er Minister wurde, hatte der Sklave die Gewohnheit, sich selbst jeden Tag für eine Stunde in die Schatzkammer einzusperren. Die anderen Minister waren eifersüchtig auf ihn, daher sagten sie dem König, etwas Verdächtiges gehe vor sich. Am nächsten Tag schaute der König durch einen Riss in der Wand, um zu sehen, was der Sklave dort jeden Tag tut. Er sah den Sklaven sich seiner königlichen Kleidung entledigen, sich die Lumpen und eisernen Armreifen der Sklaven anlegen und still in den Spiegel zu schauen. Der König betrat den Raum und umarmte den Sklavenminister und sagte ihm: „Mein Freund, mein Bruder, danke! Du hast mich daran erinnert, dass auch ich ein einfacher Sklave vor dem König der Könige bin.“

Während ich diese Worte schreibe, fühle ich mich geradezu krank. Es scheint als ob durch die Nachforschungen über die Demut, etwas in mir bestimmte Dinge wie ausspeit, die ich bereits schon vor lange Zeit hätte loswerden sollen. Wie ein Hund, der nach jedem Knochen rennt, den man ihm zuschmeißt, springe auch ich aus der inneren Stille in die Spielchen des Egos. Ich renne, ich kämpfe und ich werde überall schmutzig. Und dann, wenn das „Ziel“ erreicht ist und ich müde auf dem Boden liege und der Knochen, den ich gefangen habe, zwischen meinen Zähnen klemmt, verstehe ich wieder, dass es nicht das ist, wonach ich suche, sondern der heilige und liebevolle Frieden, der ebenfalls da war, bevor ich anfing zu rennen. Und er ist auch jetzt hier, genau hinter der Ausgangstür des Spielzimmers des Egos.