von Mihai Stoian, publiziert im Yogamagazin, Ausgabe Nr. 66, 2007

Die Prüfungen, die unsere spirituelle Evolution entlang des Weges der Selbstwerdung markieren, sind unumgänglich. Man sagt, dass selbst Jesus sie erlebt habe, insofern blicken wir alle spirituellen Tests ins Auge. Trotzdem hören wir immer wieder von Vorfällen, in denen Neulinge getestet werden, selten aber über die Tests derer, die schon länger auf dem spirituellen Pfad wandeln.

Der Fall des Lehrlings, die Verschleierung des Lehrers

Spirituelle Prüfungen, die in den ersten Phasen des Weges auftauchen, sind sehr eindeutig und viele Praktizierende sind davon betroffen. Dies geschieht als Selektion derer, die wahrlich bereit sind, weiter zu machen. Eine Diskussion zu ebendiesen Tests erfreut sich zumeist einem besserem Verständnis, weil sie sich auf das „Anfängerlevel“ bezieht, das für alle weitläufig zugänglich ist. Nichtsdestotrotz sind die spirituellen Tests der spirituell Erfahreneren ebenso interessant. Auf Grund der Tatsache, dass sie in fortgeschritteneren Levels der Praxis auftauchen, sind diese Tests subtiler und schwieriger zu entlarven.

„Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Meister.“ ist ein Sprichwort für alle, die ihre innere Evolution bereits begonnen haben und manchmal ihre Sorge darum zum Ausdruck bringen, wie sie in Zukunft geführt werden wollen.
Der Triumph über die ersten subtilen Tests auf dem spirituellen Pfad ist das Kriterium, auf dem jede weitere Selektion des Aspiranten basiert. Der Meister erscheint als Bestätigung für den Erfolg nur denjenigen, denen es gelungen ist, ihren spirituellen Test tatsächlich zu bestehen. Nun ist der Aspirant bereit für das nächste Level. Eine Weile läuft dann alles in diesem neuen Rahmen. Der Aspirant lernt die Dinge aus einem neuem Blickwinkel zu betrachten und entdeckt den Wert der oben genannten sprichwörtlichen Wahrheit.
Es kann sich aber auch genau entgegengesetzt entwicklen: wenn der Schüler einige gewichtige spirituelle Prüfungen nicht besteht, gleitet er ab: Er hört auf, „bereit“ zu sein und folglich „verschwindet“ der Meister – er verbirgt sich. Dies betrifft nicht unbedingt nur einen konkreten Rückzug aus dem Leben des Aspiranten, auf Grund einer vermeintlich „objektiven“ Situation (z.B. verlässt der Meister die physische Ebene oder er zieht in eine andere Stadt, ein anderes Land oder er hört auf die Schüler zu treffen). Zumeist ist der Lehrer seinen Schülern sogar sehr nah! Doch die Schüler im Anfang des Abgleitens verändern ihren Blickpunkt völlig und können folglich den Meister nicht länger als Meister wahrnehmen.

Der Schüler sieht mit anderen Augen, der Meister ist der selbe

Dieses bizarre Phänomen des „Sich-Verschleierns“ ist typisch für den spirituellen Leiter. Es ergibt sich einzig aus der Tatsache, dass der Aspirant seinen inneren Blickpunkt komplett ändert, nicht weil der Meister sich ändert. Der sich in dieser dramatischen Situation befindliche Aspirant wird nun beginnen, merkwürdige und niederträchtige Projektionen auf seinen Lehrer zu machen. Er findet allerlei unrealistische Ausreden und sagt, dass der Meister nicht derselbe sei wie am Anfang; selbst wenn, paradoxerweise, der Meister nachweislich für all die anderen derselbe ist: Er ist noch immer in der Lage, ihnen dieselbe göttliche Hilfe zu geben und spielt, wenn nötig, noch immer den unberechenbaren Herausforderer des Egos.

Wie kann diese Verzerrung der Wahrnehmung stattfinden?

Ein Beispiel: Ein Schüler will die Kontrolle über die sexuellen Energien praktizieren. Er wird schon bald entsprechenden ernsthaften Tests ins Auge blicken. Sollte er diesen spirituellen Test nicht bestehen, wird er als instinktiven Schutzmechanismus die Tendenz aufzeigen, seinen Anspruch herunterzuschrauben; natürlich in der Hoffnung, auf diese Weise in Zukunft von Enttäuschungen verschont zu bleiben. Ohne es zu merken verschmälert der Schüler seinen inneren Horizont und die Impulse und Handlungen des Meisters erscheinen aus einem neuen Blickwinkel – einem dunkleren, dumpferen Blickwinkel.

Wenn nun der Meister einen Impuls gibt, um alle Kräfte des Schülers zu mobilisieren und somit erfolgreich die sexuellen Energien zu kontrollieren, wird der Aspirant weniger enthusiastisch sein, ja er wird sogar ironisch reagieren oder über den Impuls des Meister witzeln, oder er manifestiert gar Unverschämtheit und ein detransfigurierendes überspieltes Desinteresse. Wenn der Meister ihm empfiehlt, seine Vorurteile fallen zu lassen und sich des Liebesspiels mit seiner Geliebten zu erfreuen um Kontrolle über die sexuellen Energien zu gewinnen, wird der Aspirant den Eindruck haben, dass er gedrängt und gezwungen wird, etwas zu tun, das für ihn nicht länger von Wert ist. So wird er die Handlung des spirituellen Leiters als Übertreibung einschätzen, als einen Eingriff in sein Privatleben. Es besteht die Gefahr, dass all diese Aspekte als Effekt des Abrutschens auftreten, das einem verfehlten spirituellen Test folgt. Der Aspirant versteht nicht länger die Wichtigkeit darin, auf dem spirituellen Weg die sexuelle Energie wiederzuverwenden und er sieht die Dinge nun aus einem „entspannteren“ Blickwinkel, in der Vorstellung, dass die systematische Verwendung der sexuellen Energien durch Transmutation und Sublimierung sekundär ist, eine Art wählbare Option.

Ein weiteres Beipiel stellt der Schüler dar, der die Geheimnisse der Meditation erforschen möchte. Am Anfang macht er sich täglich alle Mühe, inspiriert durch die Worte und dem Beispiel des Meisters. Nach einer Weile wird er zerstreuter und praktiziert nicht mehr mit derselben Intensität, obwohl seine spirituellen Ergebnisse ihm nicht das Recht geben, die Praxis zu verringern. Jetzt ist er versucht, den gewöhnlichen Aspekten des Lebens mehr Aufmerksamkeit zu schenken, die er zuvor vergänglich fand. Hat er in solch einem Moment die Wahl zwischen spiritueller Praxis und gewissen verführerischen Sozialpositionen, die ihm finanzielle Befriedigung bieten, aber all seine Zeit und Energie rauben, wählt er fast sicher die soziale Position.

Getäuscht von seiner profan gewordenen Vision wählt der Aspirant die soziale Position in der Überzeugung, dass er, nachdem er Karriere gemacht und ein dickes Bankkonto angehäuft hat, auch Zeit für Meditation finden wird. Nachdem er durch diesen Test gefallen ist, nimmt der Aspirant an, er habe korrekt gehandelt und glaubt, dass der Rat des Meisters in Sachen Loslösung von den materiellen Aspekten des Lebens merkwürdig und übertrieben ist. Deshalb wird er sogar anfangen, intensivst einige Ratschläge seines spirituellen Leiters zu kritisieren und wird andere davon überzeugen genauso zu handeln wie er. Diese Einstellung lässt ihn noch tiefer in seinen Fehler sinken, der durch das Nichtbestehen des spirituellen Test gekennzeichnet ist. In diesen Situationen vergrößert sich der Abstand zwischen Aspirant und spirituellem Leiter mehr und mehr, ohne dass sich in der Einstellung des Meisters irgendetwas ändert.

Denkmal spielen

Für fortgeschrittene Praktizierende ist einer der schwersten Tests ist der ihrer Position oder Wichtigkeit auf dem spirituellen Weg. Wenn man fortschreitet und Wissen anhäuft, wird es Teil des spirituellen Trainings des Schülers, seine Erkenntnisse mit anderen Praktizierenden derselben evolutionären Schule zu teilen. Denjenigen, die am Anfang stehen, kann der fortgeschrittene Schüler nun bei ihrer Weiterentwicklung helfen. Das Sich-selbst-geben, um anderen Impulse zu vermitteln und sie zu unterstützen bietet eine neue Tiefe im spirituellen Werden; deshalb wird dies von den meisten, die ein gewisses spirituelles Level erreichen, miteinbezogen.

Trotzdem ist es möglich, dass durch die Bedeutung der eigentlich losgelösten Arbeit, mit der er anderen bei der Entwicklung hilft, eine gewisse verstärkte Selbstherrlichkeit auftritt, recht subtil ohne eindeutige Anzeichen. So erwacht das sogenannte spirituelle Ego und wird nun Schritt für Schritt bekräftigt. Wenn das Bewusstsein der Selbstherrlichkeit strikt an persönliche Erfolge oder Gegebenheiten gebunden ist, vor allem wenn diese weltlicher Natur sind, kann es einfacher aufgespürt und behoben werden. Doch wenn es sich um Dinge dreht, die der Aspirant tut, um anderen spirituell Hilfe zu leisten, ist der Zustand heimtückisch und schleicht sich auf subtileren Ebenen in seine Seele, oft als Test auf dem Wege der inneren Perfektion.

„Die Friedhöfe sind voll von unersetzbaren Menschen“ – ist ein Sprichwort für die, die verstehen müssen, dass sie zu sehr mit sich beschäftig sind. Wenn man wahrlich etwas Gutes und Wichtiges für andere tut, kann man leicht vergessen, dass man nicht derjenige ist, der handelt, sondern dass Gott durch uns wirkt und stets genau das tut, was notwendig ist. Deshalb sollten fortgeschrittene Aspiranten mit größter Vorsicht dem Karma-Yoga-Prinzip folgen und es nach bester Möglichkeit meistern. Außerdem sollten sie sich intensiv in Demut üben, voller Aufmerksamkeit und Bewusstsein. Es ist freilich kein Zufall, dass Mönche in ihrer Gemeinschaft auf einen Zustand größter Bescheidenheit beharren – Demut ist der Verbündete gerade der Mönche, die bereits einige spirituelle Offenbarungen erfahren haben. Auf dem Rücken der Selbstherrlichkeit keimt schnell die Abtrünnigkeit vom spirituellen Weg. Wie kommt es dazu? Die Brüder, die des Aspiranten Hilfe erfahren haben, tendieren natürlich dazu, ihm „zur Ehre ein Denkmal zu bauen“. Der fortgeschrittene Adept muss nun klaren Verstand bewahren und der Identifizierung mit diesem „Image“ aus dem Wege gehen. Er muss im Grunde das eigene Denkmal zerschlagen, um seine Seele nicht damit zu identifizieren.

Der Schüler kann dies zunächst einfach als unschuldiges Spiel abtun, doch wenn das Spiel sich als innere Haltung kristallisiert, ist es zu spät. Ernsthafte Widersprüchlichkeiten, große innere Krisen und schmerzhafte Irrungen sind die Folgen. Solche Fehler werden nicht aus Mangel an Wissen begangen, sondern weil er bereits seine innere Freiheit verloren hat, als er das Denkmal wurde, das er vorher gespielt hat.

Die Kerze ist die Folge der brennenden Flamme

Ein weiter wichtiger Test fortgeschrittener Yogis ist der des „Sich-Versicherns“ gegen die Reaktionen des Meisters. Jeder wahre spirituelle Leiter hat einen zerschmetternden Effekt auf die Natur des Egos. Deshalb ist derjenige Schüler, der an seinem Ego hängt, vom ersten Schritt auf dem spirituellen Weg an durch die Taten des Meisters zu tiefst von Furcht erfüllt. Wenn dann später auf dem Pfad die Transzendenz dieser Illusionsstruktur geschieht, ist es möglich, dass der Aspirant einem tiefen unterbewussten Terror verfällt; ein Terror vor der Vorstellung, dass der Meister eines Tages wieder „zuschlagen“ könnte, um ihn im Kern seines Wesens zu treffen, dort, wo der letzte Rest des Egos begraben liegt.

Deshalb wird der Schüler, nachdem er erst einmal eine gewisse Wichtigkeit in der spirituellen Gemeinschaft erlangt hat, unterbewusst die Hoffnung haben, das die erreichte Position ihn vor dem objektiven kompromisslosen Auge seines Leiters bewahren wird. In der Prüfung, die er nun durchlaufen muss, geht es darum, wie er mit seiner Tendenz umgeht, sich auf seine, man könnte sagen „illusionäre Position“ zu stützen, der er eben eine „illusionäre“ Gewichtigkeit gibt. Dieses Verhalten wird in unserer gesellschaftlichen Erziehung geboren: Beweise Deinen Nutzen, um zu überleben. Unser Ego reagiert auf dieselbe Weise in seinem verzweifelten Versuch, die letzten Überbleibsel nach der allmählichen Verdrängung von seinen inneren Territorien zu stärken und sich eventuell zu regenerieren.

„Für den ignorant gebliebenen ist die Flamme das Resultat der brennenden Kerze, für den, der weise wurde, ist die Kerze das Resultat der brennenden Flamme.“ Dies beschreibt den Test der individuellen Praxis. Aus eingeschränkter Sicht kommt nach der Euphorie der anfänglichen Erfolge ein großer innerer Konflikt auf zwischen dem bereits teils Verstandenem und dem, was der Meister von universeller Perspektive aus sehen kann und uns klaren Verstandes und völlig losgelöst präsentiert. Wenn wir uns weigern, uns auf die Ebene zu erheben, auf der wir aufgrund unseres Wissens sein sollten, können wir den Überblick der ersten Stufen des spirituellen Weges, den wir auf Grund des vollständigen Vertrauens in den Meister errungen hatten, verlieren.

Daher rührt auch das Gefühl, vom Meister entfernt zu sein, das sich gern als vermeintlich „faire“ Kritik, phantasmagorische Unzufriedenheit und eine kleinlich übertriebene Selektivität gegenüber den Handlungen des Meisters äußert. In solchen Fällen verlieren die Taten des Schülers vermehrt an wahrlich göttlicher Bedeutung, die wir am Anfang des spirituellen Weges noch klar wahrnehmen konnten. Warum das? Weil sich von hier an unsere Vision komplett ändert. Wir leben unter dem falschen Eindruck, dass die Flamme durch die Kerze existiert und wir finden es absurd an der Flamme zu arbeiten, wenn wir doch die Form der Kerze ändern wollen!

Wenn der Spiegel zerbrochen ist, ist das Spiegelbild verzerrt

Diese Perspektive ist für die Anfänger auf dem spirituellen Pfad geradezu unvorstellbar (da am Anfang unsere innere Vision zu großen Teilen vom Meisters geborgt ist, die einen Teil der Gnade darstellt, die wir erhalten damit wir weitergehen können). Nichtsdestotrotz kann der fortgeschrittene Aspirant, der diese Tendenzen eigentlich deutlich versteht und seine eigene spirituelle Vision ausformt, möglicherweise allmählich den Kontakt zu seinem Meister verlieren durch eine eindeutige Entfremdung der Ansichten, so sich sein Verständnis nicht auf den höchsten spirituellen Ebenen kristallisiert.

Wenn der Aspirant am Anfang durch die Hilfe seines Meisters beispielsweise versteht, dass alles im Universum Liebe ist und er dieser Perspektive erlaubt, für ihn ein Impuls zu sein, so kann er dieses Verständnis trotzdem später verlieren, weil seine eigenen Erfahrungen in der Meditation und im täglichem Leben das Konzept nicht mehr stützen. Skepsis, Zweifel, Stagnation und diverse Schwierigkeiten nehmen das Herz des Aspiranten ein. Der hat allerdings nun den „sicheren“ Durchblick, sodass die Alarmglocken für ihn nicht läuten. Unterbewusst fällt der stagnierende Aspirant sein inneres Urteil: Es ist nicht ganz so, wie beschrieben, es gibt auch noch etwas anderes außer Liebe im Universum, für ihn sind die Fakten nun „anders“ und viel facettenreicher. Ironisch höhnt er nun über die spaßige Offenbarung „für Anfänger“, weiter und weiter entfernt er sich von dem universellen Prinzip und kehrt zurück zu einer profanen Sichtweise, natürlich ohne es zu merken und immer hinter dem imaginären Verhalten eines „Heiligen“ oder eines großen „weisen Mannes“ – in manchen Fällen sogar voller Stolz posaunend, er sei selbst ein Meister (warum nicht?), der dann peinlich genug seinen Meister belehrt, von dem er das Wenige, was er weiß, gelernt hat.

Auch jetzt manifestiert der Meister kontinuierlich und völlig losgelöst und wendet dieses Prinzip der fortwährend an. Wenn er mit dem Schüler interagiert und ihn korrigiert, wird der Schüler dazu tendieren die Taten des spirituellen Leiters nach seiner eigenen Perversionen und seinem begrenzten Menschenverstand verächtlich zu verurteilen; und eben nicht nach dem universellen Gesetz der Liebe, denn das hat er bereits ohne es zu merken aufgegeben, als er der direkten meisterlichen Unterstützung abtrünnig wurde und zu den Ergebnissen der eigenen spirituellen Praxis abwanderte. Besonders dann denkt er, dass der Meister aus bestimmten persönlichen Interessen handelt und interpretiert die Absichten des Meisters und seine Handlungen auf verzerrte und garstige Weise. Dies ist nur ein Teil des bekanntesten spirituellen Tests, dem der fortgeschrittene Aspirant entgegenblickt. Normalerweise sind diese Umstände schwer zu verstehen solange man nicht den entsprechenden inneren Blickpunkt hat, besonders für jene, die noch nicht die entsprechende Ebene der spirituellen Praxis und das entsprechende Verständnis haben.

Dieser Artikel im englischen Original